Schon das Timing war kompliziert, die Berechnung noch viel mehr: Eigentlich wollte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) die Herbstprognose der Bundesregierung schon am Mittwoch veröffentlichen.
Doch als sich abzeichnete, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder an jenem Tag weitreichende Einschnitte beschließen würden, wurde der Termin kurzerhand verlegt. Der Teil-Lockdown im November hat die Prognose der Regierung allerdings nicht mehr verändert. Es bleibt bei den schon Anfang der Woche durchgesickerten Zahlen.
Demnach rechnet die Bundesregierung für dieses Jahr mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und im kommenden Jahr mit einem Wachstum von 4,4 Prozent. Dass die Beschlüsse der Bund-Länder-Konferenz den Ausblick nicht verschlechtert haben, liegt maßgeblich daran, dass sich das Wachstum im dritten Quartal besser entwickelt hat als erwartet. Das Statistische Bundesamt bezifferte es am Donnerstag in einer ersten Schätzung auf 8,2 Prozent binnen Quartalsfrist.
Die Lieferketten funktionierten
Das ist das höchste jemals ermittelte Wachstum innerhalb eines Vierteljahres. Es folgt auf den historischen Rückgang der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal, als das BIP infolge der Corona-Krise um 9,8 Prozent geschrumpft war. Getragen wurde das Wachstum nach Angaben der Statistiker von höheren privaten Konsumausgaben, mehr Investitionen in Ausrüstungen und stark gestiegenen Exporten. Auch auf europäischer Ebene fielen die Zahlen besser aus als erwartet: Die Wirtschaftsleistung in der Eurozone war 12,7 Prozent höher als im zweiten Quartal, wie Eurostat mitteilte.
„Das gibt uns einen Puffer“, sagte Altmaier am Freitag. Für das vierte Quartal geht die Bundesregierung jetzt aber nur noch von einem schwachen Wachstum von 0,4 Prozent aus. Vor dem Lockdown-Beschlüssen hatte sie noch auf einen Zuwachs von 1,1 Prozent im Schlussquartal gehofft. Noch schwieriger sei der Ausblick für das kommende Jahr. „Wir stehen an einem Scheideweg“, sagte Altmaier. „Das Pendel kann in die eine oder andere Richtung ausschlagen.“ Es gebe eine realistische Chance, die 4,4 Prozent zu erreichen. Die Zahl aus der Interimsprojektion im September bleibt also erstmal. Aber Voraussetzung sei, dass die Infektionszahlen deutlich sinken.
Den Wertschöpfungsverlust durch den Lockdown im November beziffert das Wirtschaftsministerium auf 8 Milliarden Euro – und als verschmerzbar. Zwar würden die Konsumausgaben deutlich zurückgehen. Doch anders als im Frühjahr sei die Lage in der Industrie besser. „Kein Unternehmen muss Kurzarbeit machen, weil Lieferungen nicht ankommen.“ Die Lieferketten funktionierten. Vor allem in Asien erhole sich die Wirtschaft wieder.
„Das reißt das BIP nicht ins Minus“
Ökonomen teilten Altmaiers Optimismus nicht ganz. Trotz des deutlichen Zuwachses im dritten Quartal warnte Andreas Scheuerle von der Dekabank vor falscher Euphorie. Die kräftige Erholung sei „überwiegend eine technische Reaktion“ gewesen. Je tiefer man einen Ball unter Wasser drücke, desto höher springe er danach aus diesem heraus. Das gelte auch für die Konjunktur, sagte Scheuerle. Die steigenden Infektionszahlen und die am Mittwoch beschlossenen Maßnahmen trüben die Ausblicke.
„Der rasante BIP-Anstieg verdient Applaus, er wird durch den Teil-Lockdown aber überschattet“, meinte auch Alexander Krüger vom Bankhaus Lampe. Commerzbank-Chefsvolkswirt Jörg Krämer sagte mit Blick auf das Wachstum im dritten Quartal: „Das wäre eine wunderbare Steilvorlage für das vierte Quartal gewesen. Aber wegen der zweiten Corona-Welle und des neuerlichen Lockdowns können wir froh sein, wenn das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal nicht unter die Nulllinie fällt.“ Diese Sorge teilen immer mehr Ökonomen.
Die von den neuen Einschränkungen besonders betroffenen Bereiche Gastronomie, Hotellerie, Reiseveranstalter und Kultur haben zusammen einen Anteil von rund 3 Prozent an der Wirtschaftsleistung. „Wenn diese Bereiche nun einen Monat lang ausfallen, gibt es einen Dämpfer im vierten Quartal, aber das reißt das BIP nicht ins Minus“, sagte Torsten Schmidt, Leiter Konjunkturprognose am Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI der F.A.Z. Es komme nunmehr darauf an, wie sich die Maßnahmen der Bundesregierung auf die Konsumlaune auswirkten.
Carsten Brzeski, Chefsvolkswirt der ING, rechnet damit, dass sich viele mit neuen Anschaffungen zurückhalten werden: „Die Unsicherheit, die Sorge vor dem Verlust des Arbeitsplatzes führen dazu, dass die Leute vorsichtig werden, mehr sparen.“
Steuererhöhungen zur Finanzierung der Krise?
Brzeski erwartet, dass auch die Industrie ihre Produktion wieder drosseln wird – wenn auch nicht so stark wie im Frühjahr. Zwar teilt er die Ansicht des Wirtschaftsministeriums, dass die Lieferketten dieses Mal funktionieren. „Doch die Nachfrage aus dem europäischen Ausland, wo sich das Infektionsgeschehen weiter verschärft, wird zurückgehen. Investitionen werden aufgeschoben. Die starke Erholung in Asien kann das nur leicht abfedern“, sagte Brzeski der F.A.Z.
Auch nach dem Ende des Lockdowns wird die Lage nach Einschätzung von RWI-Ökonom Schmidt angespannt bleiben: „Eine starke Gegenbewegung wie im Mai und Juni wird es im Dezember und Januar nicht geben. Das führt zwangsläufig dazu, dass das Vorkrisenniveau erst später erreicht wird.“
Altmaier beziffert dieses „später“ auf das Jahr 2022. Spätestens dann sollten die Einbußen der Pandemie wieder aufgeholt sein. Die Rufe nach Steuererhöhungen zur Finanzierung der Krise, die am Donnerstag ein weiteres Mal aus der SPD kamen, wies er wie schon zuvor zurück. „Das würde nur die Wachstumskräfte schwächen – und damit auch die Steuereinnahmen.“
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